Aktuell: Ich lehne die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes ab

Zum heute vom Bundeskabinett vorgelegten Entwurf eines Gesetzes für eine "Notbremse":

In vielen Bereichen sind wir gut damit gefahren, je nach Lage föderal und regional unterschiedlich gegen die Pandemie vorzugehen. Die Länder und Kommunen vor Ort wissen oft am besten, welche Lösungen bei der lokalen Corona-Eindämmung helfen. Dieser föderale Ansatz war immer auch ein Garant für die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen vor Ort. In Stadtstaaten sind die Erfordernisse schließlich völlig anders als in Flächenländern, in Grenzgebieten völlig anders als in Binnenregionen.

Es wird darum kein Allheilmittel sein, wenn der Bund nach und nach immer mehr Kompetenzen an sich zieht. Über die Länder hinweg Gesetze und Verordnungen zu erlassen, wird viele Grundprobleme nicht lösen. Wichtiger ist, beim Impfen, Testen und in der Digitalisierung bestehende Möglichkeiten endlich konsequent zu nutzen.

Anders als ursprünglich geplant, werden wir uns für die parlamentarischen Beratungen zur Notbremse deutlich mehr Zeit nehmen. Das Gesetz wird nicht im beschleunigten Verfahren beschlossen, sondern diese Woche zunächst nur im Bundestag eingebracht. Kommende Woche finden weitere intensive Beratungen und eine öffentliche Anhörung statt.

Das ist gut und richtig, denn bei derart tiefgreifenden Fragen, wie sie jetzt im Raum stehen, muss der Bundestag das letzte Wort haben. Als Bundestagsabgeordneter erwarte ich, dass wir im Vorfeld gründlich beraten und uns nicht unter Zeitdruck setzen lassen.

Als direkt gewählter Abgeordneter werde ich der Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes nicht zustimmen. Das hat neben der oben genannten föderalen Kompetenzverteilung weitere Gründe.

Einmal mehr stehen und fallen die geplanten Maßnahmen einzig und allein mit dem 7-Tage-Inzidenzwert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Für eine Stadt mit zehntausend Einwohnern hieße das: Harter Lockdown, sobald sich in einer Woche 10 Menschen infizieren. Das halte ich für völlig unverhältnismäßig.

Das schießt über das Ziel hinaus. Das ignoriert, dass viele Kreise und Städte sehr wohl auch Inzidenzen über 100 gut bewältigen können. Vor allem blendet es die Kollateralschäden aus: für die Wirtschaft, für die Kultur, für die Bildung. Für unsere Stadtzentren, das öffentliche Leben, die Freizeit- und Vereinskultur – also für unseren sozialen Zusammenhalt, der als Ganzes seit über einem Jahr auf eine harte Probe gestellt ist.

Mit großem Aufwand haben wir uns als Parlamentarier in den letzten Monaten dafür eingesetzt, dass eben nicht nur auf die tägliche Inzidenz geschaut wird – sondern auch auf viele andere Kriterien und Faktoren, die viel aussagekräftiger sind: die Auslastung der Kliniken, der Anteil schwerer Krankheitsverläufe, der Fortschritt beim Impfen, die steigende Zahl durchgeführter Tests.

Auch in der Wissenschaft ist es längst Konsens, dass der Inzidenzwert allein zu kurz greift. Er schwankt täglich, und er unterliegt Fehlern durch Meldeverzüge, Wochenenden und Feiertage. Vor allem ist er in seiner Höhe von 100 eine rein politische Orientierungsgröße: Also ein Richtwert, der wissenschaftlich für sich keine absolute Bedeutung hat. Jetzt wieder allein auf diesen Wert zu schauen, wäre ein großer Rückschritt.

Nicht zuletzt habe ich große Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der diskutierten Maßnahmen. Gerade mit Ausgangsbeschränkungen drohen wir, unsere bisherige Corona-Politik ad absurdum zu führen:

Monatelang haben wir uns gegenseitig Mut gemacht, dass wir nach einem harten Winter im Frühjahr wieder nach draußen können. Wir haben im Herbst vor dem Aufenthalt in Innen- und Privaträumen gewarnt, denn dort finden erwiesenermaßen die meisten Infektionen statt. Nun aber soll plötzlich das Gegenteil gelten: Bürgerinnen und Bürgern soll der Aufenthalt im Freien eingeschränkt werden – und das ausgerechnet im Frühling.

Das ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht höchst fragwürdig. Vielmehr ist auch die politische Signalwirkung verheerend. Ich finde: Statt sie zu bevormunden, müssen wir es den Menschen zutrauen, sich aus eigenem Antrieb verantwortungsvoll zu verhalten.

Christian Tjaden