Persönliche Erklärung zur bundesweiten "Notbremse"

Wie bereits Mitte April angekündigt, hatte ich an der Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes von Beginn an große Zweifel. Schließlich standen im ersten Entwurf des Gesetzes schwere Eingriffe in die Grundrechte und in das föderale Gefüge im Raum.

Bedanken möchte ich mich für Ihre & Eure vielen Nachrichten, Mails und Briefe in den vergangenen Tagen. Sie haben gezeigt: Es lohnt sich, miteinander zu diskutieren und Argumente auszutauschen – gerade in der jetzigen Situation, in der es um Grundrechte und die Zukunft unseres Miteinanders geht.

Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen ist es gelungen, am Gesetz wesentliche Änderungen und Nachbesserungen zu verhandeln. Dies erkenne ich ausdrücklich an. Dennoch haben diese im Ergebnis meine Bedenken nicht ausgeräumt. Auch nach Ende der parlamentarischen Verhandlungen zur bundesweiten „Notbremse“ habe ich darum an meiner Entscheidung festgehalten, dem Gesetz nicht zuzustimmen, sondern mich stattdessen enthalten.

Meine Gründe dafür habe ich in einer persönlichen Erklärung dargelegt, die ich anlässlich der Schlussabstimmung im Bundestag vorgelegt habe. Diese Erklärung können Sie hier als PDF herunterladen, oder nachfolgend als Fließtext lesen:

„Persönliche Erklärung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages

21. April 2021

2./3. Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines

Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) eine bundesweit verbindliche Notbremse ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 eingeführt werden. Weiterhin soll die Bundesregierung ermächtigt werden, über Rechtsverordnungen bundesweit einheitliche Corona-Maßnahmen zu erlassen.

Die nach wie vor schwierige Pandemielage erfordert notwendige Schritte zur Eindämmung des Corona-Virus, was ich ausdrücklich unterstütze. Es geht darum, Neuinfektionen zu vermeiden, Menschenleben zu schützen und eine Überlastung unseres Gesundheitssystems (wie wir sie in anderen Ländern der Welt gesehen haben) zu verhindern. Dazu befürworte ich es, konsequente und zielführende Maßnahmen zu ergreifen.

Eine Erweiterung der Kompetenzen des Bundes bietet für mich jedoch keine überzeugende Garantie für eine sinkende Inzidenz. Ein Blick auf zentralistisch regierte Länder wie Frankreich zeigt, dass eine zentrale Bündelung von Kompetenzen nicht automatisch zu einer Verbesserung der Pandemiesituation führt. Der Gesetzentwurf ermächtigt die Bundesregierung zur Festsetzung von Corona-Maßnahmen, die von den Bundesländern bereits jetzt im Rahmen von Landesverordnungen angeordnet werden können. Zudem hinaus müssten die vom Bund beschlossenen Maßnahmen ohnehin weitestgehend durch die Länder umgesetzt werden. 

Ich bin der festen Überzeugung, dass es bei der Eindämmung der Pandemie entscheidend auf ein Mitwirken und die Akzeptanz der Bevölkerung für die Corona-Maßnahmen ankommt. Diese Akzeptanz geht bei den Bürgerinnen und Bürgern aber zunehmend verloren, wenn auch in Regionen mit niedriger Inzidenz Schließungen vorgenommen werden müssen, weil in einem anderen Teil die Inzidenz steigt. Darüber hinaus halte ich pauschale Ausgangsbeschränkungen, deren pandemischer Nutzen nicht eindeutig wissenschaftlich belegt ist, für unverhältnismäßig.

Zudem ist es mittlerweile wissenschaftlicher Konsens, dass die alleinige Betrachtung des Inzidenzwertes zu kurz greift. Er kann stets nur ein politischer Richtwert von vielen sein, zumal es viele andere epidemiologische Kriterien gibt, die aussagekräftiger sind: beispielsweise die Auslastung der Kliniken, den Anteil tatsächlich schwerer Krankheitsverläufe, den Fortschritt beim Impfen oder die steigende Zahl durchgeführter Tests. Auch an dieser Stelle halte ich den Gesetzentwurf für problematisch, weil er Grundrechtseingriffe an nur ein einziges Kriterium knüpft.

Gleichzeitig sehe ich die vorgenommene Kompetenzverlagerung im Hinblick auf grundlegende föderale Prinzipien der Bundesrepublik kritisch. Die angestrebte Gesetzesänderung zentralisiert Machtbefugnisse beim Bund und entzieht den Bundesländern gleichzeitig wichtige Kompetenzen bei der Bekämpfung der Pandemie. Gerade dort müssen aber weiterhin regionale Entwicklungen vor Ort Berücksichtigung finden. Entscheidungen über angemessene Corona-Maßnahmen sollten auch künftig differenziert und anhand der lokalen Gegebenheiten getroffen werden können. Die Bundesländer und die Kommunen haben die entsprechenden Kompetenzen, um notwendige Maßnahmen vor Ort gezielt umzusetzen.

In meinem Heimatbundesland Sachsen-Anhalt laufen derzeit mehrere vielversprechende Modellprojekte zur schrittweisen Öffnung von Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen. Diese Projekte wären nach den Regelungen des Gesetzentwurfs mit der verankerten pauschalen Notbremse nicht mehr möglich. Damit werden den Menschen nicht nur die Motivation zur Einhaltung der Corona-Regeln und Anreize für regelmäßige Tests genommen. Auch die wichtige wissenschaftlich-statistische Auswertung der Modellprojekte für Erkenntnisse über das Infektionsgeschehen wäre dann nicht mehr möglich. Auch Schulen müssten wieder schließen, obwohl die in Sachsen-Anhalt praktizierte Testpflicht dafür sorgt, den Kindern einen geregelten Unterricht in dem für sie wichtigen Klassenverband zu ermöglichen.

Weiterhin kritisch sehe ich, dass der Gesetzentwurf keine gesetzliche Differenzierung im Hinblick auf bereits gegen das Corona-Virus durchgeimpfte Personen vorsieht und diesbezüglich lediglich eine Verordnungsermächtigung vorsieht.

Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen ist es gelungen, am Gesetz wesentliche Änderungen und Nachbesserungen zu verhandeln:

  • Klare Ausstiegsperspektive: Das Gesetz ist nun befristet bis zum 30. Juni.

  • Strikter Parlamentsvorbehalt: Rechtsverordnungen auf Grundlage des Gesetzes sind nun nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundestages zulässig.

  • Abschwächung Ausgangsbeschränkungen: Ab 22 Uhr, wobei zusätzlich bis 0 Uhr das Spazieren und der Individualsport erlaubt bleiben.

  • Einkaufen bleibt möglich: „Click & meet“ bis Inzidenz 150, „click & collect“ immer.

  • Gärten und Parks bleiben geöffnet: Unabhängig von der „Notbremse“.

  • Sport für Kinder bleibt möglich: In Kleingruppen im Freien (unter 14 Jahren).

  • Vorteile für Geimpfte und Getestete: Rechtsverordnung wird umgehend erfolgen.

Diese Anpassungen sind deutliche Verbesserungen. Sie bilden einen mühsam errungenen Kompromiss ab, der viele Anregungen und geäußerte Bedenken der beteiligten Akteure im parlamentarischen Verfahren (Koalitionspartner, eigene CDU/CSU-Bundestagsfraktion und 16 Bundesländer) berücksichtigt. Dies erkenne ich ausdrücklich an. Dennoch beseitigen diese im Ergebnis nicht die von mir beschriebenen Bedenken.

Ich werde mich daher bei der Abstimmung zum Gesetz enthalten.

Tino Sorge, MdB“

 

 

 

 

Christian Tjaden